RABENVÖGEL:

Intelligente Schönheiten - Mythos und Wahrheit

Die Dohle

Auf des gehörnten Wildbergs Felsenlenden
Liegt körnger Neuschnee locker aufgeweht.
Durch seine glitzerigen Wülste drückt
Die Föhre kaum die sturmverkrümmten Äste.
Die graue Alpendohle hockt zuhöchst drauf,
Halb schlafend, halb erfroren, Kopf und Schnabel
Ins struppige Gefieder eingezogen.
Es kommt von ungefähr der Tod geschlendert
Und sieht die alte Kreatur und denkt
Ihr Döchtlein im Vorbeigehn abzuzwicken.
Schon spreizt er seine dürren Finger aus,
Das gellt ein Pfiff tief unten durch das Tal,
Und aus dem Tunnel an der Felsenlehne
Des Bergstocks jagt ein Zug mit roten Lichtern,
Und seine Räder dröhnen durch die Dämmrung.
Ein falscher Schein huscht auf des Todes Stirn,
Er grinst – er lacht und packt die Föhre blitzschnell
Und schüttelt sie. Aufkreischend fällt die Dohle
Und hüpft und flattert bänglich unbeholfen.
Der Schnee rutscht unter ihren plumpen Flügeln –
Er gleitet langsam – unten gleitets rascher –
Es rollt – es poltert – stürzt – es fegt – es saust –
Es schnellt und schießt und stäubt die jähe Fluh hinunter.
Es stäubt von Fluh zu Fluh – die Laue stürzt,
Und in die Tiefe schmettern Zug und Mensch!
Der Tod reibt sich vergnügt die Knochenhände
Und johlt, dass es von Fels zu Felsen schrillt:
„Ich hätte das getan? Die Dohle tats!“
Und tanzt und freut sich wie ein Gassenbube.

(Adolf Frey, aus der Sammlung Totentanz)

Updated: 11/10/2015 — 22:28
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