RABENVÖGEL:

Intelligente Schönheiten - Mythos und Wahrheit

Der alte Rabe und die Vogelscheuche

„Krah! Krah!“ krächzte der alte Rabe und flog in einem gemächlichen Bogen über die herbstlichen Felder. „Krah! Krah!“ antworteten seine schwarzen Brüder. Sie pickten mit ihren gelben Schnäbeln die letzten Körner aus den Ackerfurchen, die bei der Ernte aus den Ähren gefallen waren.

„Krah! Krah!“ erwiderte der alte Rabe und ließ sich auf einer Vogelscheuche nieder, die auf einem sanften Hügel stand. Er war müde geworden wie die gelbbraune Erde ringsum, die Menschen und Tieren eine reiche Ernte geschenkt hatte.

Nach dem geschäftigen Treiben der Erntezeit war es still geworden auf den Feldern. Mit seinen großen, dunklen Augen blickte der Rabe über das Land, das im matten Sonnenlicht eines herbstlichen Abends lag. Es war, als wollte sich die Natur noch einmal wärmen, bevor die winterlichen Stürme über die kahlen Felder dahinbrausen und mit ihrer nagenden Kälte alles Leben in schützende und wärmende Höhlen und Ritzen verjagen. „Krah! Krah! Ich bin alt geworden“, dachte er, „vielleicht ist das mein letzter Sommer gewesen?“ Er seufzte, doch es klang immer wie „Krah! Krah“, ein wenig leiser nur. „Krah! Krah!“, seufzte er abermals.

Er hatte viel in seinem Leben gesehen und er war es zufrieden. Er lauschte in die Stille des goldenen Lichts, das sanft auf seinem schwarzen Gefieder lag. Wehmütig blickte er zur alten Stadt hinüber, die mit ihren roten Giebeln und den vielen behäbigen Türmen auf die nahende Nacht zu warten schien. Im Winter würden die Vögel dort Zuflucht vor der grimmigen Kälte suchen und hoffen, daß die Menschen von ihrem Überfluß auch ein wenig für sie übrig ließen.

„Krah! Krah! Vielleicht ist es mein letzter Winter“, dachte er abermals. Es war ihm, als wäre die Luft jetzt kühler als sonst. „Unsinn! Das bildest du dir nur ein!“ sagte er zu sich selber. Wie um seine trüben Gedanken zu verscheuchen, richtete er sich auf und plusterte sein schwarzes Gefieder. „Krah! Krah! Komm herüber!“ riefen seine Körner pickenden Brüder, „der Winter kommt bald“. „Freßt nur“, dacht er, „ich habe keinen Hunger“. Als ob Fressen seine Gedanken vertreiben könnte. Früher, ja früher …

Am Himmel zog ein silbrig glänzendes Flugzeug einen weißen Streifen über das blasse Blau und spannte einen Bogen von Horizont zu Horizont. „Krah! Krah!“, seufzte er wieder und es klang noch ein wenig leiser.

Der alte Rabe betrachtete die Vogelscheuche, auf deren ausgestreckten Arm er saß. „Diese Vogelscheuchen“, dachte er. Er hatte sie nie wirklich gefürchtet. Damals vielleicht, als er noch jung und unerfahren mit seinen Eltern und Geschwistern zum ersten Mal auf die Felder flog, damals machte er einen großen Bogen um alle Vogelscheuchen. Aber er hatte bald gelernt, daß sie ihm nichts anhaben konnten. Der Vater erzählte ihm, daß sie die Bauern jedes Jahr im Frühjahr aufstellten, wenn sie die Saat in den Boden brachten. „Alles nur Firlefanz! Wer fürchtet sich vor einer Vogelscheuche. Alles nur Firlefanz!“, hatte ihn sein Vater belehrt. Auch wenn er anfangs ein wenig Respekt vor ihnen hatte, so beachtete er sie mit der Zeit überhaupt nicht mehr. Viel eher erschreckten ihn die krachenden Böller, die die Bauern manchmal in den Wochen vor der Ernte abschossen, um ihn und all die anderen Vögel zu verjagen. Aber auch an das konnte man sich gewöhnen. „Aber diese Vogelscheuchen, nein, die brauchte man nicht zu fürchten“, dachte er.

Der Rabe betrachtete bei diesen Gedanken die Vogelscheuche, auf der er saß, genauer. Ein alter Besenstiel mit den abgekehrten Reisigzweigen am Griff in den Boden gerammt, ein quer darüber genageltes Brett und alte Kleider darüber geworfen. Es war wohl einmal ein rotes Sommerkleid gewesen, doch die Sonne und der Regen hatten in all den Jahren die Farbe ausgebleicht, und die Stürme manches Loch gerissen. Ganz oben auf den Reisigzweigen war ein zerrissener Strohhut mit einem ehemals wohl leuchtend blauen Band festgebunden. Auch sie hatte einmal bessere Zeiten gesehen, dachte er.

„Lächerlich“, erinnerte er sich an die Worte seines Vaters, „ist doch alles nur Firlefanz!“ Diese Gedanken heiterten sein trübe Stimmung ein wenig auf. „Krah! Krah! Firlefanz! Krah! Krah!“ krächzte er und es klang ein wenig anders als sonst, beinahe wie Lachen. Doch als er an seinen Vater dachte, fiel ihm wieder jener harte Winter ein, in dem seine Familie zuwenig zum Fressen gefunden hatte. Er erinnerte sich, daß sein Vater wohl an der großen Not und an der Sorge um seine Familie zugrundegegangen war. „Krah! Krah!“, seufzte er wieder, doch nun klang es wieder traurig und leise: „Was ist ein Firlefanz? Was ist ein Firlefanz?“

Der alte Rabe war so vertieft in seine Gedanken, daß er diese fremde leise Stimme beinahe nicht gehört hätte. Er blickte sich erstaunt um. Weit und breit war niemand zu sehen, der gesprochen haben könnte. Nur seine schwarzen Brüder pickten die immer seltener werdenden Körner aus den braunen Furchen der Felder. Sie waren zu weit entfernt. Auch kannte er die Stimmen seiner Brüder. „Ich muß träumen!“ dachte er kopfschüttelnd. War er auf seine alten Tage wunderlich geworden? Träumte er am hellichten Tag? Spielten ihm seine Erinnerungen einen Streich? Doch abermals diese fremde Stimme: „Was ist ein Firlefanz? Was ist ein Firlefanz?“

Dieses Mal war es deutlich vernehmbar. Es hatte jemand gesprochen. Das war keine Täuschung.

„Ich vielleicht? Ich bin kein Firlefanz?“

Er flatterte kurz auf und umrundete mit einigen kräftigen Schlägen seiner breiten schwarzen Flügel seinem bequemen Sitzplatz. Kein Zweifel, die Vogelscheuche hatte gesprochen. Das war ihm noch nie untergekommen, und dabei hatte er doch wirklich viel erlebt in seinem langen Rabenleben. Eine Vogelscheuche, die sprechen kann. Er blickte sich um, ob vielleicht seine schwarzen Freunde auch etwas gehört hatten; aber sie saßen ungestört in den Ackerfurchen und pickten gierig und stumpfsinnig vor sich hin. Er ließ sich wieder auf dem ausgestreckten Arm der Vogelscheuche nieder. Die Sonne war ein wenig tiefer gestiegen und berührte beinahe schon die dichten dunklen Wipfel der Bäume, die nun ihren langen Schatten über die brachliegenden Felder warfen.

„Meinst du mich? Hast du mit mir gesprochen?“ krächzte er, noch immer zweifelnd.
„Bist du taub“, ließ sich die Vogelscheuche diesmal deutlicher vernehmen.
„Krah! Krah! Natürlich nicht“, anwortete er. „Aber du mußt verstehen, daß ich verwundert bin. Ich habe noch nie gehört, daß eine Vogelscheuche sprechen kann!“
„Weil ihr Vögel alle taub seid und uns aus dem Wege geht“, antwortete die Vogelscheuche. „Also, was ist ein Firlefanz?“
„Entschuldige! Ich wollte dich nicht beleidigen! Aber wer denkt schon, daß mich ein Ding wie du hören kann. Und erst reden!“.
„Ich bin kein Ding, merk dir das. Ich bin zwar nur eine Vogelscheuche, aber auch ich habe meinen Stolz“.

Der Rabe musterte von seinem Platz aus die Vogelscheuche und sah, daß sie sich ein wenig schüttelte. Dabei flatterten die blauen Bänder des Strohhuts. Aber vielleicht war das auch nur der Wind, der sich jetzt aus den sich längenden Schatten des späten Abends erhob und eine leise Unruhe über das Land legte. Aber er merkte nichts von diesem kühlen Hauch. Obwohl er schon alt und erfahren war, erregte ihn die Neugier.

„Was es nicht alles gibt“, wunderte er sich krächzend.
„Was es nicht alles gibt“, äffte die Vogelscheuche sein Krächzen nach.
„Ich habe viel erlebt in meines Leben und ich habe so manches gehört und gesehen, aber eine sprechende Vogelscheuche, nein, davon habe ich noch nie etwas vernommen“.

Er blickte wieder zu seinen schwarzen Brüdern hinüber, aber die suchten eifrig nach Körnern und hatten keine Augen für dieses seltsame Gespräch. Der Rabe dachte nach und sagte schließlich: „Ich wollte deinen Stolz nicht verletzen! Nein, das wollte ich wirklich nicht. Aber mein Vater“, und dabei seufzte er wieder ein wenig, „mein Vater hat mich gelehrt, daß Vogelscheuchen eben nichts anderes sind als ein Holzkreuz mit altem Plunder darüber. Daß man mit ihnen reden kann, nein …“.
„Plunder! Plunder! Schon wieder eine Beleidigung!“, fiel sie ihm ins Wort.
„Mit alten Kleidern“, verbesserte sich der Rabe.
„Ihr habt wohl keine gute Meinung von uns, ihr gefräßigen Krähen?“, fragte die Vogelscheuche.
„Nun“, anwortete der Rabe bedächtig und jedes Wort genau überlegend, „nun, deine Kleider sind ja wirklich nicht mehr die neuesten …“
„Gefallen sie dir vielleicht nicht? Außerdem: dir muß ich nicht gefallen! Im Gegenteil …“
„Nein! Nein!“ beeilte er sich zu versichern. „Du siehst ganz nett aus! Und der Strohhut steht dir wirklich gut! Ich habe noch keine schönere Vogelscheuche in meinem ganzen Leben gesehen!“
„Übertreibe nun nicht“, antwortete die Vogelscheuche abwehrend aber doch ein wenig geschmeichelt. „Ich bin jedenfalls zufrieden mit mir! Aber mir paßt es nun einmal nicht, wenn man mich beleidigt!“
„Das wollte ich ganz bestimmt nicht“, versicherte der Rabe.

„Ach, ihr Krähen seid doch alle gleich! Ich krächzt den lieben langen Tag …“
„Jetzt könnte ich beleidigt sein“, unterbrach er sie, „denn ich bin keine Krähe sondern ein Rabe.“
„Ob Krähe oder Rabe, ihr seid doch alle gleich! Den ganzen Tag fressen und krächzen …“
Der alte Rabe war nicht wirklich beleidigt, denn immer schon wurden er und seinesgleichen mit den Krähen verwechselt, vor allem von den Menschen, für die sie alle gleich ausschauten. Außerdem konnte eine solche Verwechslung einen klugen Raben, und Raben waren kluge Vögel, nicht aus der Ruhe bringen. Ihm machte das Gespräch nun auf einmal Spaß, denn so etwas war ihm in seinem langen Rabenleben wirklich noch nicht untergekommen.

Beide schwiegen. Die Sonne war wieder ein Stück ihres Himmelsweges tiefer gewandert und die kühlen Finger des abendlichen Schattens erreichten schon den kleinen Hügel, auf dem die Vogelscheuche weithin sichtbar stand. In der Stadt, die am Fuße des Hügels lag, brannten die ersten Lichter hinter den Fenstern. Die ersten Raben erhoben sich langsam von den Äckern und sammelten sich in gemächlichen Kreisen, um in die Stadt zurückzukehren.

„Lebwohl! Nun muß ich aufbrechen“, verabschiedete sich der Rabe. „Es wird Zeit, daß ich in die Stadt zurückfliege“.
„Kommst du morgen wieder?“ fragte die Vogelscheuche, der das lange Gespräch auch Spaß gemacht hatte. Sie war nicht wirklich beleidigt gewesen, denn schon viele Jahre stand sie auf den Feldern des Bauern und hatte auch so manches erlebt und gesehen. Nur selten hatte sie die Gelegenheit, mit jemandem zu sprechen. Und wenn sie darüber nachdachte, so war es vielleicht das erste Mal …

„Ich weiß nicht recht …“, erhob sich der Rabe von seinem Sitzplatz und flog noch einen Bogen um die Vogelscheuche, „vielleicht …“. Mit einem letzten „Krah! Krah!“, das wohl ein Lebewohl sein sollte, gesellte er sich zu seinen Brüdern und kehrte in die alte Stadt zurück, die nun schweigsam im Dunkel des Abends ruhte, nur auf der Kirchturmspitze lag ein letzter rötlicher Glanz des seltsamen Tages, an dem ein Rabe und eine Vogelscheuche miteinander gesprochen hatten. Auf dem Rückflug, den er stiller als sonst in der Schar seiner schwarzen Brüder zurücklegte, gingen dem Raben viele Gedanken durch den Kopf. Ja, er würde bestimmt wiederkommen, ganz bestimmt …

Viele Tage waren seit diesem ersten seltsamen Gespräch zwischen dem alten Raben und der Vogelscheuche ins Land gegangen. Das Jahr reifte zur Neige und der Rabe hatte beinahe jeden Tag die Vogelscheuche aufgesucht. Sie sprachen über Gott und die Welt, über ihr Leben, in dem sie so manches gesehen und gehört hatten, sie sprachen über Dinge, von denen wir Menschen uns wohl kein Bild machen können. Manchmal aber auch blickten sie nur schweigend über das weite Land, das das sich vor ihnen ausbreitete. Beide waren nicht gewohnt, viele Worte zu machen. Beide hatten in ihrem ganzen Leben wohl noch nie soviel gesprochen wie in diesen seltsamen Herbsttagen. Aber nicht die Worte zählten: sie waren Freunde geworden.

Seine schwarzen Brüder, mit denen der Rabe jeden Tag aus der Stadt hinaus auf die Felder flog, spotteten: „Krah! Krah! Du bist auf deine alten Tage wunderlich geworden! Setzt sich auf eine Vogelscheuche!“ „Krah! Krah! Auf eine Vogelscheuche!“, wiederholten die anderen im Chor. „Krah! Krah! Und reden soll er sogar mit ihr!“, berichteten manche und schüttelten ungläubig ihre schwarzen Köpfe. „Krah! Krah!“ wunderten sich die übrigen, und es klang wie ein Lachen. Aber das machte dem alten Raben nichts aus. Sollten sie nur spotten! Er wußte es besser.

Eines Tages, der Winter hatte sich mit kürzeren Tagen und immer rauheren Stürmen angekündigt, saß der Rabe wieder den ganzen Nachmittag auf seiner Vogelscheuche. Gegen den Abend zu wurde es immer kälter und der erste Schnee hing schon in den tiefen schweren Wolken, die der Wind nur mühsam über den blassen Himmelsbogen treiben konnte. Der Rabe war an diesem Tag sehr schweigsam gewesen. Als die Zeit des Aufbruchs nahte und er sich mit dem gewohnten „Krah! Krah!“ von der Vogelscheuche verabschiedete, da spürte sie, daß heute etwas anders und ungewöhnlich gewesen war. Freunde fühlen oft manches, worüber man keine Worte zu machen brauchte.

„Was ist mit dir? Du kommst doch morgen wieder?“ fragte sie, beinahe ein wenig besorgt.
„Vielleicht. Ich weiß es nicht“. Eine große Traurigkeit lag in seiner krächzenden Stimme.
„Ich würde mich freuen“, ermunterte ihn die Vogelscheuche. „Es ist hier heraußen so einsam! Und der Winter kommt …“ Noch nie hatte sie zuvor von ihrer Einsamkeit gesprochen.

„Mit mir geht es zu Ende“, sagte er leise. „Ich spüre das!“
„Firlefanz! Firlefanz!“, spottete die Vogelscheuche, aber sie fühlte dabei, daß ihr Freund mit dieser Erinnerung an den Beginn ihrer Freundschaft nicht aufzuheitern war.
„Du hast es gut!“, seufzte der Rabe. „Dich holt bald der Bauer. Du kannst in der Scheune überwintern. Und im nächsten Jahr, wenn die Sonne wieder stärker wird und die Saat in der Erde liegt, stellt er dich von neuem aufs Feld, damit du deine Arbeit verrichten kannst.“
„Nein, das glaube ich nicht!“, antwortete sie traurig, „jetzt glaube ich es nicht mehr! Sieh dich doch um! Schon lange hat der Bauer alle Vogelscheuchen in die Scheune gebracht. Alle! Nur auf mich hat der Bauer vergessen“.
„Dann bleibst du den ganzen Winter über auf dem Feld stehen?“ Die Stimme des Raben klang ein wenig besorgt.
„Mach dir über mich keine Gedanken! Darauf freuen sich doch alle Vogelscheuchen“, erwiderte sie.
„Aber der Schnee, das Eis und die Kälte erst …“, erinnerte sich der Rabe an die Jahreszeit, die er immer am meisten fürchtete.
„Dann komme ich eben in den Vogelcheuchenhimmel! Dann muß ich nicht mehr das lange liebe Jahr auf den Felder stehen und die albernen Vögel verscheuchen.“
„In den Vogelscheuchenhimmel?“ Nun war es an dem alten Raben, sich zu wundern.
„Ja! Habe ich dir noch nicht die alte Geschichte erzählt?“
„Welche Geschichte? Nein, davon hast du mir nie erzählt.“
„Wenn du morgen Zeit hast und mich wieder besuchst, werde ich sie dir erzählen“.

Der Rabe war neugierig geworden. „Du kannst sie mir ja noch heute erzählen“, drängte er.
„Das hat doch Zeit!“ vertröstete sie ihn. „Das hat doch Zeit bis morgen!“ Sie wollte ihn damit wohl bewegen wiederzukommen.
„Nein, nein! Wer weiß, ob ich morgen wiederkommen kann. Ich fühle, daß ich den ersten Schnee nicht mehr erleben werde … Und sieh dir die Wolken an!“
„Unsinn!“, erwiderte die Vogelscheuche, „warum sollst du den ersten Schnee nicht erleben? Du siehst alles viel zu schwarz! Ihr klugen Raben seht immer alles viel zu schwarz. Da kommt wahrscheinlich von der Farbe eures Federkleids“.
„Nein, nein! Gerade weil wir so klug sind, sehen wir manches anders. Ich spüre es schon deutlich, und du weißt, daß wir Raben ein gutes Gefühl dafür haben, was die Zukunft bringen wird.“

Die Vogelscheuche ahnte, daß es dem Raben ernst damit war und sie begann zu erzählen. Sie tat es vielleicht auch nur, um seine trüben Gedanken ein wenig zu verscheuchen und ihn aufzuheitern.

„Vor vielen Jahren war es, als ich wieder in der Scheune bei meinen Freunden stand und auf das neue Jahr wartete, da erzählte uns eine weise Vogelscheuche, daß es immer wieder vorkommt, daß ein Bauer eine von uns draußen am Feld vergißt. Meist waren es die älteren Vogelscheuchen, die der Wind und der Regen gar arg zerzaust hatten, sodaß sie ihren Dienst nicht mehr verrichten konnten.

Die Bauern machten sich dann nicht mehr die Mühe, sie nach der Ernte in die Scheune zurückzuholen, sondern sie ließen sie einfach draußen stehen. Wenn dann der Winter mit seinem schweren Schnee und dem frostigen Eis über das Land hereinbricht, dann hat für sie die letzte Stunde geschlagen. Wir jungen Vogelscheuchen fürchteten uns bei diesen Worten sehr“, erinnerte sie sich.

Die Vogelscheuche sprach nicht weiter, denn sie dachte wieder daran, daß heuer wohl die Reihe an ihr war, denn der Bauer hatte diesmal auf sie vergessen. Dabei waren ihr rotes Kleid und der Strohhut trotz der vielen Löcher und Ritzen, durch die manchmal der Wind blies, noch ganz in Ordnung.

„Erzähl weiter!“, drängte der Rabe.
„Nun, damals erzählte uns diese alte Vogelscheuche, daß wir dann aber keine Angst zu haben brauchen, denn dann werden wir von unserem nicht immer glücklichen Erdendasein erlöst und kommen in den Vogelscheuchenhimmel“.
„Das hast du schon erzählt“, mahnte sie der Rabe ungeduldig. „Was hat es mit dem Vogelscheuchenhimel auf sich?. Er fühlte dabei deutlich, daß die Vogelscheuche wohl auch Angst hatte. Noch nie hatten sie über solche Dinge miteinander geredet. Und er spürte, daß sie trotz der äußeren Verschiedenheit viel mehr gemeinsam hatten, als er bisher geahnt hatte.

„Unterbrich mich nicht immer! Also, die vergessenen Vogelscheuchen kommen dann in den Vogelscheuchenhimmel. Wir waren damals sehr ungläubig, denn wir konnten uns nichts darunter vorstellen. Und auch die alte Vogelscheuche, die uns diese Geschichte erzählte, konnte uns nichts Genaues davon berichten. Auch sie hatte diese Geschichte nur einmal vor vielen Jahren von einer anderen alten Vogelscheuche gehört. Nur soviel wußte sie zu sagen, daß mit dem ersten richtigen Schnee die vergessenen Vogelscheuchen von den Feldern verschwinden und man im nächsten Jahr, wenn der Bauer die Saat in den Boden bringt und die Vogelscheuchen aus den Scheunen auf die Felder stellt, nichts mehr von ihnen sieht und hört“.

„Das ist wirklich eine seltsame Geschichte. Aber ich habe in meinem Leben schon so viele wundersame Dinge erlebt, warum soll an dieser Geschichte nicht doch etwas Wahres sein!“ versuchte der Rabe die Sorgen der Vogelscheuche zu vertreiben. Aber in seiner Stimme klang soviel Mitgefühl, daß der Trost wohl nur ihre Angst spiegelte. „Es gibt ihn sicher, diesen Vogelscheuchenhimmel“, betonte er deshalb, doch Zweifel lag in seiner Stimme.

„Ja, es gibt ihn bestimmt“, versuchte die Vogelscheuche ihn und wohl auch sich selber aufzumuntern. Sie spürte sein Mitgefühl und eine zärtliche Wärme umfing ihr Vogelscheuchenherz.
Sie schwiegen.

„Es ist eine schöne Geschichte“, seufzte der Rabe endlich. „Wenn es doch auch einen Rabenhimmel gäbe!“
„Bestimmt gibt es auch einen Rabenhimmel …, ganz bestimmt …“
„Wer weiß das schon?“
Und sie schwiegen wieder. Es war inzwischen dunkel geworden. Der Rabe hatte die Rufe seiner Brüder überhört, die schon vor geraumer Zeit in die Stadt zurückgekehrt waren. Schweigsam saß er auf der Vogelscheuche und blickte mit ihr zur Stadt hinüber, die trotz der vielen Lichter nun beinahe bedrohlich vor der dunklen Kette der Hügel lag, die mit den Schatten der schneeschweren Wolken zu verschmelzen schien.

Das Licht des Mondes kündigte sich mit einem fahlen Schleier hinter den tiefliegenden Wolken an. Es sollte eine Vollmondnacht werden.

Die Vogelscheuche und der Rabe hoben sich wie ein einziger Schatten im schwachen Licht gegen das kühle Schwarz der Felder und das fahle Silber des nahen Waldes ab.
Es war kalt geworden, der Wind strich kräftiger über die Felder hin und bog die Wipfel der Bäume. Der Rabe war eingeschlafen und die Vogelscheuche lächelte darüber ein wenig unter ihrem alten Strohhut, dessen einstmals schmückenden blauen Bänder flatterten.
Ihr war ein wenig bang ums Herz, denn so recht wollte sie selber nicht an diese alte Geschichte glauben. Es war wohl nur eines jener Märchen, daß man den jungen unerfahrenen Vogelscheuchen an den langen Winterabenden in der Scheune erzählt, um ihnen die Zeit zu vertreiben. Vielleicht war es heuer soweit …
Ja, es war ihr ein bang ums Herz. Sie blickte zu dem Raben, der auf ihrem langen ausgestreckten Arm saß und schlief. In ihre Traurigkeit mischte sich eine innere Freude, denn wie einsam waren doch früher immer die langen Nächte gewesen. Besonders in den letzter Wochen, hatte sie schon voll Ungeduld darauf gewartet, daß der Rabe sie am Tage besuchen kam. Wie ungeduldig hatte sie immer an den Schlägen der Turmuhr, die der Wind aus der nahen Stadt zu ihr herübertrug, die Stunden bis zum nächsten Tag gezählt.
Eine große schwere Wolke verbarg den Mond und nur ein kühles Leuchten an ihren Rändern zeugte von der stillen Wanderung des Nachtgestirns. Von der Stadt klangen die mitternächtlichen Schläge der Turmuhr herüber. Sie blickte zu den fernen Hügeln hinüber, die sich nun noch dunkler gegen den silbrig fahlen Himmel abhoben. Da war ihr, als erschiene am dunklen Horizont zwischen jenen Hügeln ein Licht, dessen Schein im heftigen Wind hin- und herzuschaukeln schien. Zunächst beachtete sie dieses Licht gar nicht, doch es wurde immer größer und heller. Es war ihr, als hörte sie auch ein Gewirr von Stimmen, das aus dieser Richtung kam. Nein, das waren keine Stimmen, es war ein seltsamerer Gesang, der sich mit dem Pfeifen des Windes vermengte.

Neugierig geworden lauschte sie in den Wind und vernahm nun deutlicher ein „Hui! Hui! Kommt mit! Hui! Hui!“ und immer wieder: „Hui! Hui! Kommt mit! Hui! Hui!“
„Wach auf! Wach auf!“, rüttelte sie aufgeregt den Raben, der friedlich auf ihrem Arm saß und schlief. „Wach doch auf! Wach doch auf!“
Dieser schüttelte ob dieser Störung unwillig seinen Kopf und plusterte schlaftrunken sein Gefieder. „Was ist denn los? Wo bin ich denn …“
„Da, sieh doch!“
Er sammelte seine schläfrigen Gedanken und blickte in die Richtung, die ihm die Vogelscheuche aufgeregt mit ihren langen Armen wies. Das Licht war inzwischen noch näher gekommen. Ganz deutlich sah man einen langen Zug von seltsamen tanzenden Gestalten. An der Spitze des Zuges aber eine Gestalt in einem langen fliegenden Gewand, die lachend auf einem feurig funkelnden Besen saß. Sie hielt eine große Laterne in der Hand und leuchtete damit dem Zug den Weg. Kein Zweifel: das war eine Hexe.

Verwundert blickte der Rabe auf den sich nähernden Zug, dessen Gesang sich inzwischen zu einem Brausen erhoben hatte. Eine leibhaftige Hexe. Und dahinter, die tanzenden Gestalten … Das waren Vogelscheuchen, lauter Vogelscheuchen. „Hui! Hui! Kommt mit! Hui! Hui!“, forderten sie tanzend im Chor. „Hui! Hui! Kommt mit! Hui! Hui!“
„Sie kommen! Sie kommen!“ rief die Vogelscheuche erregt. „Die alte Geschichte!“ Ihre Stimme überschlug sich: „Hörst du, die alte Geschichte ist doch wahr! Ich habe es immer geahnt“.

Inzwischen war der gespenstische Zug so nahe gekommen, daß man die einzelnen Gestalten genau betrachten konnte. War das eine bunte und fröhliche Gesellschaft. Bis zum Horizont reichte die Reihe der Vogelscheuchen, eine wunderlicher und wunderbarer gekleidet als die andere. Die eine trug Frack und Zylinder, die andere hatte ein langes Kleid an und eine alte Dose als Hut, eine andere wieder hatte ein leuchtend buntes Kopftuch umgebunden, an dem klingende Schellen baumelten. Die alten Kleider flatterten bunt im Wind und im Takt ihres ausgelassenen Tanzes. Und seltsam, von allen ging ein wunderbares silbriges Leuchten aus, es war, als hätten sie in ihrem Tanze den Mond berührt und ein wenig von seinem Glanz mit sich fortgetragen. „Hui! Hui! Kommt mit! Hui! Hui!“ riefen sie wieder, und einige stimmten ein Lied an, in dessen Takt sie tanzend und springend vorbeiwirbelten:

„Hui! Hui! Kommt mit!
Im gleichen Schritt!
Laßt alles sein,
wir holen euch heim.
„Hui! Hui! Kommt mit!
Im gleichen Tritt!
Es ruft die Nacht,
bald ist’s vollbracht!
„Hui! Hui! Kommt mit!
„Hui! Hui! Kommt mit!

„Ja, ich komme! Ich komme!“, rief die Vogelscheuche, die nun nicht mehr zu halten war. „Ich komme!“
Sie zerrte an ihrem Besenstiel, mit dem sie in der kalten Wintererde verankert war. Der Boden war schon gefroren und es gelang ihr kaum, sich daraus zu befreien. „So hilf mir doch!“, rief sie dem Raben zu. Sie zerrte und zog mit aller Kraft, daß sie auseinanderzubrechen drohte.
„Und was ist mit mir?“ krächzte ihr der Rabe zu, der nur mühsam das fordernde Geschrei des Chores der Vogelscheuchen überschreien konnte.
„Ich muß mit! Ich muß mit“, antwortete die Vogelscheuche und zerrte abermals so heftig, daß sie beinahe umfiel. Schon sah man das Ende des langes Zuges der Vogelscheuchen. „Ich muß mit! Ich muß mit“, rief sie abermals ängstlich.
„Warte, warte doch! Du brichst noch auseinander“. Der Rabe erhob sich von seinem Platz, an dem er sich nur mit Mühe festhalten konnte, denn so aufgeregt ruderte die Vogelscheuche mit ihren Armen in der Luft, daß er beinahe zu Boden gestürzt wäre. Mit seinem kräftigen Schnabel hackte er auf die Erde zu Füßen der Vogelscheuche ein.
Endlich! Endlich! Mit einem heftigen Ruck befreite sich die Vogelscheuche und es zersplitterte das alte Holz des Besenstiels. Gerade waren die letzte Vogelscheuchen des langen nächtlichen Zuges an ihnen vorübergetanzt: „Hui! Hui! Kommt mit! Hui! Hui!“, klang der fordernde Gesang.

Endlich befreit schloß sie sich mit einem mächtigen Satz ihren Brüdern und Schwestern an. „So komm doch endlich!“, erinnerte sie sich nun wieder an ihren Freund, den sie beim letzten entscheidenden Ruck, mit dem sie sich befreit hatte, beinahe erschlagen hätte. Benommen öffnete der Rabe seine schwarzen Flügel. Seine Freundin streckte ihm als letzte des Zuges jenen langen Arm entgegen, auf dem er in den letzten Wochen so oft gesessen war. Er wollte wieder dorthin an seinen Platz. Und sein Platz war der Arm der Vogelscheuche. Das wußte er, das war alles, was er denken konnte. Es schien einen Augenblick, als könnte er diesen sicheren vertrauten Ort nicht mehr erreichen, denn im Gebraus des Windes und des Gesanges war der Zug schon ein schönes Stück weitergeflogen. Doch noch sah er das blaue Flattern der Bänder des Strohhuts. Er nahm alle Kraft zusammen, die in seinen müden Flügeln steckte. So schnell war er noch nie in seinem Leben geflogen. Nur den rettenden Arm erreichen, auf dem er sich geborgen fühlte. „So komm doch! So komm doch!“, rief sie ihm zu.

„Hui! Hui! Kommt mit!
Im gleichen Schritt!
Bald ist’s vorbei,
wir sind dabei!
„Hui! Hui! Kommt mit!
Im gleichen Tritt!
Vorbei ist die Nacht,
eh du’s gedacht!
„Hui! Hui! Kommt mit!
„Hui! Hui! Kommt mit!

Der Zug hatte in Windeseile die fernen Hügel des Horizonts erreicht. Noch einmal der Gesang, noch einmal das leuchtende Flackern der tanzenden Gestalten. Dann ein schwaches Glimmern noch … Vorbei! Eine Täuschung? Ein Traum wohl. Stille, nur befreiende Stille. Nicht ein Halm regte sich.

Dunklere und schwerere Wolken zogen am Himmel auf und hüllten den Mond und die Erinnerung an den seltsamen Zug in ihren verbergenden Mantel. Die ersten Schneeflocken schwebten sanft auf die Felder nieder und webten für diese seltsame Nacht eine leichte weiße Decke. Es war, als wollte die Natur über das Geschehene den zarten Schleier des Vergessens legen, die Spuren für die Nachkommenden auslöschen …

Als am nächsten Tag die Raben in ihrem schwarzen Zug von der Stadt her wie jeden Tag zuvor auf die Felder flogen und im Schnee ihre großen Fährten hinterließen, da glitzerte Schnee auf dem Hügel. Und als sie hungrig zu dem Platz kamen, wo gestern noch die Vogelscheuche gestanden war, da war er leer. Seltsam, dachten wohl manche, aber sie waren zu hungrig, um darüber nachzudenken. Die Menschen in der Stadt hüteten ihre Vorräte und es fiel nur wenig für sie von ihrem Überfluß ab. Und sie pickten in den Furchen der Felder nach den Körnern, die die Bauern bei ihrer Ernte vergessen hatten. Wie jeden Tag. So machten sie sich daran, mühsam nach Körnern zu suchen, die im Schnee noch schwerer zu finden waren als sonst. Es ware zu wenige, wie jeden Tag. Und als der winterliche Abend früher als sonst auf die Felder kam, da flogen manche von ihnen noch hungrig zurück in die Stadt.

(Werner Stangl)

Updated: 12/10/2015 — 23:55
Rabenvögel: © 2023 Frontier Theme